Andreas Steiner ist Seelsorger im Kinder-Palliativteam PALUNA der Uni-Kinderklinik Tübingen. Er hat gemeinsam mit dem Kinderhospizdienst BOJE eine Trauerwanderung für verwaiste Eltern gestaltet: ein erlebnisbezogenes Angebot für Eltern, sich mit dem Verlust eines Kindes auseinanderzusetzen.
„Jedes Mal, wenn man es ausspricht, wird es realer. Und fühlt sich doch an wie eine Lüge.“ Jochen Dörle spricht leise, wählt jedes Wort mit Sorgfalt. Das Erzählen fällt ihm merklich schwer. Er und seine Partnerin haben ihren Sohn im Herbst 2023 verloren, rund sechs Monate vor dem Start der dreitägigen Wanderung, die Andreas Steiner organisiert hat. Die Teilnahme war für das Paar eine enorme Herausforderung. „Wir wussten nicht, was es mit uns macht. Wir sind damals zum ersten Mal mit unserer Geschichte vor Andere getreten.“ Dass die anderen Teilnehmenden ein ähnliches Schicksal teilen, habe jedoch geholfen. „Niemand, der das nicht selbst erlebt hat, weiß, wie es sich anfühlt“, sagt Dörle.
Genau hier liegt die Idee der Trauerwanderung begründet: Das Wandern in der Gruppe erleichtert es, ins Gespräch zu kommen – man ist in Bewegung und hat ein gemeinsames Ziel. Man kann sich an der Oberfläche über die Landschaft austauschen oder das tiefe Gespräch suchen. Familie Dörle hat in den Tagen wieder eine Leichtigkeit gespürt, die zuvor nicht mehr möglich schien: „Man tauscht sich aus, lacht über Kleinigkeiten.“ Dass alle in der Gruppe ein ähnliches Schicksal teilen, sei hilfreich – die Eltern müssen nicht lange erklären, was in ihnen vorgeht.
„Die Schwere geht verloren“, sagt auch Initiator Andreas Steiner. Er hat einen Teil des Jakobswegs ausgewählt, die Gruppe ist von Hechingen nach Beuron gewandert. „Es war eine säkulare Veranstaltung, der Pilgergedanke schwang aber mit“, erklärt er. Pilgern als Innehalten und Neuorientierung. Dieses Innehalten hat Anja Kramer gesucht, als sie sich zu der Wanderung angemeldet hat. Sie hat vor rund vierzehn Jahren ihre damals elfjährige Tochter verloren. „Das ist lange her – die Trauer aber ist immer da. Man lernt nur, damit umzugehen“, sagt sie. Sie wollte sich mal wieder bewusst Zeit für ihre Tochter nehmen. „Es hat einfach unheimlich gutgetan – darüber zu sprechen, hilft mir sehr“, erzählt sie nach der Wanderung. Auch Anja Kramer betont, dass das Konzept des Wanderns geholfen habe: „Beim Laufen ist Reden einfach, man kommt vom Banalen schnell ins Persönliche.“
Dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine gewisse Leichtigkeit spürten und sich einander öffnen konnten, ist dabei keineswegs selbstverständlich. Anja Kramer hat beispielsweise die Erfahrung gemacht, dass manche Angebote zur Trauerbewältigung für sie nicht funktionierten. „Wir haben die gemeinsamen Tage so aufgebaut und geplant, dass ein sicherer Ort entsteht“, erklärt Andreas Steiner. Gemeinsam mit seiner Kollegin Anja Reuß hat er zu der Idee ein Konzept entwickelt. So gab es zum Beispiel am ersten gemeinsamen Abend eine Gesprächsrunde, in der sich jede und jeder vorstellen konnte und die eigene Geschichte erzählt hat. „Das ist wichtig, damit wird zum einen ein erstes Kennenlernen gefördert, zum anderen wird das verbindende Moment dieser eigentlich sehr unterschiedlichen Menschen verdeutlicht“, so Steiner.
„Als meine erste Aufgabe sehe ich, dass ich einen vertrauensvollen Raum für Begegnungen schaffe und dass jede und jeder einen eigenen Weg findet“, erläutert Steiner. Wichtig sei, die Wanderung und die Gespräche zugleich zu leiten und genügend Raum zu geben für individuelle Bedürfnisse der Teilnehmenden. Jochen Dörle war beeindruckt, was diese Führung einerseits und der Freiraum andererseits bewirkt haben: „Es gab neben den Gruppengesprächen auch Schweigephasen, in denen wir still gewandert sind. Das Schweigen hat ein Band sichtbar und spürbar werden lassen, welches uns alle verbunden hat.“ Er sei nur einer von drei Vätern unter den Teilnehmenden gewesen und betont, „wie heilsam es sein kann, auch für Väter, sich zu begegnen, sich zu öffnen und Emotionen zuzulassen.“
Steiner möchte auch künftig Trauerwanderungen anbieten können. „Wir sind unheimlich froh, dass wir von HILFE FÜR KRANKE KINDER unterstützt werden und so dieses so besondere und wertvolle Angebot realisieren können.“ Bei der nächsten Trauerwanderung soll der Jakobsweg weitergegangen werden – etwas, das Jochen Dörle und seine Partnerin bereits selbständig getan haben: die drei Tage in der Gruppe waren so heilsam, dass sie weitere Etappen gewandert sind. Anja Kramer möchte bei der nächsten Trauerwanderung wieder dabei sein: „Es war eine tolle Gruppe, tolle Menschen – also ja, sofort wieder“, sagt sie und lacht.
Das erlebnisbezogene Angebot zur Trauerbewältigung erleichtert es verwaisten Eltern, sich mit dem Verlust des eigenen Kindes auseinanderzusetzen – ganz individuell und in geschütztem Rahmen. (Foto: Andreas Steiner)
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